#MeToo-Vorwürfe intern klären – der 10-Schritte-Fahrplan für Unternehmen

Sexualisierte Belästigung am Arbeitsplatz ist spätestens seit der #MeToo-Bewegung 2017 ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Zahl der Beschwerden in Unternehmen ist seither deutlich gestiegen. Rund 70 % der internen Meldungen entfallen mittlerweile auf #MeToo-Vorfälle. Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, jeden Hinweis auf sexualisierte Belästigung, Mobbing und Diskriminierung konsequent aufzuklären. Gleichzeitig ist mit dem Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) im Juli 2023 ein Gesetz in Kraft getreten, das Unternehmen ab 50 Mitarbeitenden zur Einrichtung interner Meldestellen verpflichtet.

Alle Personenbezeichnungen in diesem Blog beziehen sich gleichermaßen auf sämtliche Geschlechtsidentitäten. Zur besseren Lesbarkeit verwenden wir stellenweise ein kursives innen; dies dient allein der sprachlichen Klarheit und ist nichtdiskriminierend gemeint.

Wie geht man praktisch vor, wenn ein Hinweis zu möglichem Fehlverhalten eingeht?

Folgendes 10-Schritte-Modell (Abb. 1) hat sich in der Praxis bewährt, um #MeToo-Beschwerden systematisch und gerecht zu untersuchen.

10 stufiger Prozess einer #MeToo-Ermittlung am Arbeitsplatz. Sachverhaltserklärung Mobbing, sexualisierte Gewalt und Belästigung.

Abb. 1: Typischer Prozess einer #MeToo-Ermittlung in zehn Schritten (eigene Darstellung nach Hinweisgeber-Compliance GmbH).

1. Hinweisaufnahme

Alles beginnt mit der Entgegennahme der Meldung. Ob der Hinweis über das offizielle Meldesystem (Hotline, Online-Portal etc.), per E-Mail an HR oder vertraulich im Gespräch erfolgt: Nehmen Sie jede Meldung ernst und dokumentieren Sie sie umgehend. Bestätigen Sie den Eingang gegenüber der hinweisgebenden Person zeitnah – gesetzlich sind hier max. 7 Tage vorgegeben. Bedanken Sie sich bei der Beschwerdeführerin für das Vertrauen – ein wertschätzender Umgang fördert die Kooperationsbereitschaft.

Führen Sie an dieser Stelle noch keine detaillierte Befragung mit dem mutmaßlichen Opfer durch. Dies birgt das Risiko von Mehrfachbefragungen derselben Person zu einem späteren Zeitpunkt. Mehr dazu in Punkt 7. Klären Sie hier nur kurz die üblichen W-Fragen und lassen Sie sich von der hinweisgebenden von der Vertraulichkeit gegenüber jeder Person (z.B. Zeugen) entbinden, mit der Sie zu besprechen beabsichtigen. Pauschale Entbindungen sind nicht ausreichend.

2. Prüfung Anwendungsbereich und Plausibilität

Jetzt erfolgt Ihre Prüfung, ob der Hinweis unter den Anwendungsbereich des HinSchG fällt. Sie sollten wissen, in welchem Rechtsbereich sich der gemeldete Vorfall bewegt – z.B. HinSchG oder AGG oder beidem. Fällt der Vorwurf in Ihren Zuständigkeitsbereich? Handelt es sich z.B. um sexuelle Belästigung im Sinne des AGG oder einen Compliance-Verstoß? Hier wird der Anwendungsbereich der Untersuchung abgesteckt. Danach erfolgt eine Plausibilitätsprüfung: Hätte das so stattfinden können?

Falls der Hinweis offensichtlich nicht substanziiert oder völlig außerhalb des Unternehmenskontexts ist, kann ggf. in dieser Phase bereits abgeschlossen oder an die zuständige Stelle verwiesen werden. In den meisten Fällen jedoch wird eine nähere Prüfung nötig sein. Wichtig: Bereits jetzt sollte die Vertraulichkeit vereinbart und allen Beteiligten klargemacht werden.

3. Auswahl der Ermittler und Zuständigkeiten klären

Nun stellt sich die Frage: Wer soll ermitteln? Legen Sie früh fest, welche Einheit oder Person die interne Untersuchung führt. Denkbar sind HR, Compliance, Rechtsabteilung, eine benannte Beschwerdestelle nach AGG – oder eine Kombination daraus. Wichtig ist, dass die Ermittlerinnen unabhängig und geschult sind sowie keine Interessenkonflikte haben. Ein Team-Ansatz ist oft sinnvoll: Beispielsweise eine Person aus Compliance (für die Verfahrenssicherheit) und eine aus HR (für arbeitsrechtliche Aspekte). Achten Sie aber darauf, das Team klein zu halten, um Vertraulichkeit zu gewährleisten.

Bereits in dieser Phase sollte entschieden werden, ob externe Unterstützung erforderlich ist. Bei gravierenden Vorwürfen – systematischer Belästigung oder wenn hochrangige Führungskräfte beschuldigt werden – schaffen externe Ermittler (z.B. Anwaltskanzlei, Investigation-Boutiquen) mehr Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit.

4. Untersuchungsplan und Maßnahmen vorbereiten

Als nächstes entwickeln die Ermittlerinnen einen Untersuchungsplan. Dieser enthält: Was genau soll geklärt werden (z.B. Was soll genau untersucht werden? Wer hat wann was beobachtet? Gibt es physische Beweise? etc.)? Wen will man befragen (Beschwerdeführerin, Zeugen, beschwerte Person) und in welcher Reihenfolge? Welche Unterlagen oder Systeme müssen geprüft werden (E-Mails, Chat-Verläufe, Zugangsdaten, Kameras etc.)? Planen Sie die Schritte so, dass Beweise möglichst früh gesichert werden. In dieser Phase sollten auch sofortige Schutzmaßnahmen erwogen werden: Muss das mutmaßliche Opfer vom mutmaßlichen Täter räumlich getrennt werden (z.B. Versetzung, Freistellung) während der Ermittlungen? Ist psychologische Unterstützung für Betroffene notwendig? Solche Maßnahmen dienen dem Präventions- und Schutzgebot nach § 12 AGG. Sie sind aber mit Augenmaß einzusetzen, um die Unschuldsvermutung gegenüber der beschwerten Person nicht zu verletzen.

Bei strafrechtlich relevantem Verdacht (etwa sexuelle Nötigung, §177 StGB) sollte der Arbeitgeber – in Absprache mit dem Opfer – die Strafverfolgungsbehörden einschalten. Zwar besteht keine Pflicht zur Anzeige, aber Polizei und Staatsanwaltschaft haben weitergehende Ermittlungsmöglichkeiten (Durchsuchungen, Beschlagnahmen). Die Entscheidung zur Anzeige bedarf jedoch Fingerspitzengefühl und sollte im Einvernehmen mit der betroffenen Person getroffen werden um eine sekundäre Viktimisierung zu vermeiden.

5. Kommunikation und Ankündigung der Untersuchung

Transparenz gegenüber den richtigen Stellen ist jetzt wichtig. Informieren Sie die beschwerte Person zeitnah und schriftlich darüber, dass ein Vorwurf untersucht wird – allerdings ohne unnötige Details preiszugeben. Die beschuldigte Person sollte die Gelegenheit erhalten, sich zu gegebener Zeit zu äußern, aber zunächst geht es nur um die Mitteilung, dass Ermittlungen laufen.

Alle Empfänger dieser Info sind zur Vertraulichkeit anzuhalten. Insbesondere die beschuldigte Person sollte darauf hingewiesen werden, dass keine Vergeltungsmaßnahmen oder Kontaktaufnahmen zur Beschwerdeführerin und Zeugen in dieser Angelegenheit erfolgen dürfen. Zudem sollten die beschwerte Person unter Verweis auf die  Unschuldsvermutung darauf hingewiesen werden, dass eine Fortsetzung oder Wiederholung des vorgeworfenen Verhaltens zu unterbleiben hat.  Ebenso sollten Führungskräfte angewiesen werden, keine eigenen „Nachforschungen“ anzustellen, sondern die offiziellen Ermittlerinnen arbeiten zu lassen.

6. Beweissicherung: Dokumente und digitale Spuren

Nun geht es in die aktive Ermittlungsphase. Sammeln Sie verfügbare Beweise so früh wie möglich. Das kann vieles umfassen: E-Mails, Chats (z.B. Teams, Slack, sofern zulässig), Kalenderdaten, Zutrittskontroll- und Zeiterfassungsdaten, Videoaufzeichnungen oder physische Beweise. Wichtig ist, Beweismittel unverzüglich zu sichern, bevor sie verloren gehen oder manipuliert werden könnten. In IT-Systemen sollte die zuständige IT-Abteilung involviert werden, um z.B. Backups zu ziehen oder Logs zu sichern. Hierbei ist stets der Datenschutz zu beachten – Zugriffe auf E-Mails z.B. erfordern meist die Zustimmung der IT- und ggf. Rechtsabteilung und müssen dokumentiert werden.

Parallel sollten Sie alle relevanten Unterlagen zum Fall zusammentragen: Personalakten (frühere Beschwerden gegen die Person?), Schulungsnachweise, Unternehmensrichtlinien (Code of Conduct) usw. Diese helfen, den Kontext zu verstehen. Erstellen Sie ferner eine Chronologie der bekannten Ereignisse laut Hinweis: Wann soll was passiert sein? Dies dient als Gerüst für weitere Schritte.

7. Befragungen der Beteiligten und Zeugen

Der Kern sind die Interviews. Planen und führen Sie Befragungen mit allen relevanten Personen durch – typischerweise zuerst mit der hinweisgebenden Person (Beschwerdeführerin), dann mit etwaigen Zeuginnen und zuletzt mit der beschwerten Person. Jede Befragung erfolgt einzeln und vertraulich. Keinesfalls dürfen mutmaßliches Opfer und Beschuldigter gemeinsam an einen „runden Tisch“ gesetzt werden.

Führen Sie die Interviews möglichst mit zwei Personen. Eine Person stellt die Fragen, die zweite protokolliert und beobachtet. Aktives Zuhören ist hier entscheidend – geben Sie der Person Raum, ihre Erfahrung darzulegen. Vermeiden Sie Suggestivfragen und bewerten Sie die Schilderungen nicht vorschnell. Am Ende des Gesprächs: fragen Sie nach konkreten Beweismitteln (Zeuginnen, Mails, etc.) und klären Sie offene Punkte. Dokumentieren Sie jedes Interview wortgetreu oder so nah wie möglich am Wortlaut – entweder mittels Abschrift oder zumindest sehr ausführlichem Protokoll.

Bei der Befragung von hinweisgebenden Personen und Zeugen sollten Sie sich an dem ‘erweiterten kognitiven Interview’ (Fisher/Geiselman) orientieren. Diese wissenschaftlich abgesicherte Methode ist internationaler Standard bei Zeugenbefragungen. Sie erzielen dadurch durchschnittlich 35% mehr Informationen von Ihren Gesprächspartnern und können dadurch auch wesentlich besser zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden.

Die beschwerte Person sollten Sie mit der ‘Strategic-Use-of-Evidence-Technique‘ (Granhag/Hartwig) befragen. Bei dieser aussagepsychologischen Befragungstechnik testen Sie, ob Ihr Gesprächspartner Sie anlügt. Wissenschaftliche Studien belegen eine Überführungswahrscheinlichkeit von 85% bei lügenden Gesprächspartnern.

Achten Sie darauf, die Befragungen gut zu planen, um Mehrfachbefragungen zu vermeiden. Mehrfachbefragungen führen gedächtnispsychologisch zu artefiziellen Verzerrungen, weil Menschen sich weniger an das originäre Ereignis, sondern eher an das erinnern, was sie beim letzten Mal gesagt haben.

8. Faktenprüfung und Auswertung

Vergleichen Sie die Aussagen miteinander und mit den vorliegenden Beweismitteln. Wo gibt es Widersprüche, wo Übereinstimmungen? Prüfen Sie, welche Aspekte objektiv belegbar sind und wo Aussage gegen Aussage steht. Gegebenenfalls müssen weitere Nachforschungen angestellt werden – etwa zusätzliche Zeuginnen befragt oder Experten (z.B. IT-Forensik) hinzugezogen werden, falls neue Hinweise auftauchen.

Ein wichtiger Schritt ist die Glaubhaftigkeitsbeurteilung: Insbesondere bei divergierenden Aussagen sollte versucht werden, die Schilderungen auf ihre Plausibilität, innere Stimmigkeit und Detailtiefe hin zu bewerten. Hier können aussagepsychologische Kriterien herangezogen werden. Halten Sie Zwischenergebnisse schriftlich fest. Falls nötig, konsultieren Sie die Rechtsabteilung oder externe Expertinnen, um die Indizien rechtlich einzuordnen.

9. Debriefing: Abschlussgespräch im Team

Bevor endgültige Schlussfolgerungen gezogen werden, empfiehlt sich ein internes Debriefing im Untersuchungsteam. Gehen Sie die Chronologie und Beweislage Schritt für Schritt durch. Stellen Sie auch sicher, dass alle vorgeschriebenen Prozessschritte eingehalten wurden. Im Debriefing sollte zudem besprochen werden, welche Maßnahmen vorgeschlagen werden – abhängig vom Ermittlungsergebnis.

10. Berichtserstellung und Ergebniskommunikation

Zum Abschluss der Untersuchung wird ein Abschlussbericht erstellt. Diese Dokumentation sollte lückenlos und strukturiert sein. Halten Sie darin fest: den Auslöser (Hinweis), den Ablauf der internen Ermittlungen (chronologisch), die festgestellten Ergebnisse/Fakten, eine Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussagen sowie die empfohlene arbeitsrechtliche Reaktion des Unternehmens. Wichtig ist eine nachvollziehbare Begründung: Warum kommt der Bericht zu dem Schluss, zu dem er kommt? Welche Beweismittel stützen diese Erkenntnis und wie wurde mit eventuellen Widersprüchen umgegangen? Dieser Bericht bildet die Basis für eventuelle weitere Schritte – intern wie extern. Sollte es zu einem Gerichtsverfahren (z.B. Kündigungsschutzklage) kommen oder die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufnehmen, ist der interne Untersuchungsbericht ein zentrales Dokument. Achten Sie daher auf Objektivität und Präzision im Ton.

Auch die Beschwerdeführerin bekommt Feedback: Sie ist gemäß HinSchG innerhalb von 3 Monaten über das Ergebnis oder den Stand der Bearbeitung zu informieren. Dabei müssen nicht alle Details offengelegt werden (insb. personenbezogene Informationen der beschwerten Person sind zu schützen), aber die hinweisgebende Person sollte erfahren, ob ihr Anliegen begründet war und welche allgemeinen Maßnahmen ergriffen wurden („Der Vorfall wurde bestätigt und der beschuldigten Person arbeitsrechtliche Konsequenzen aufgezeigt.“).

Abschluss einer #MeToo-Ermittlung

Liegt ein bestätigter Verstoß vor, muss das Unternehmen angemessen reagieren. Wie oben erwähnt, sieht § 12 Abs. 3 AGG eine Reihe möglicher Maßnahmen vor: Von einer Abmahnung über Versetzung oder Umsetzung bis hin zur Kündigung (in schweren Fällen). Welche Sanktion die richtige ist, hängt von der Schwere des Fehlverhaltens, dessen Häufigkeit und den Umständen ab. Entscheidend ist, dass die gewählte Maßnahme geeignet ist, zukünftige Übergriffe wirksam zu unterbinden. Ziehen Sie bei schwierigen Fällen unbedingt juristischen Rat hinzu, um die Verhältnismäßigkeit zu prüfen.

Parallel zu individuellen Sanktionen sollten präventive Schritte erwogen werden: Müssen Trainings oder Workshops zum Thema Respekt am Arbeitsplatz angeboten werden? Sollte die bestehende Anti-Mobbing- oder Anti-Belästigungs-Policy überarbeitet und erneut allen Mitarbeitenden kommuniziert werden? Dies zeigt auch der Belegschaft, dass das Unternehmen aus dem Vorfall konstruktive Konsequenzen zieht.

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